Das Buch 'walking' ist eine Sammlung von ausgewählten Arbeiten des Malers und Bildhauers Bernhard G. Lehmann, ein Einblick seines Schaffens der letzten dreißig Jahre.
Dieser erste Band im Ringbuch-Format, der sich mit dem Schaffen des Künstlers beschäftigt, ist nun abgeschlossen und enthält zahlreiche Abbildungen und Textbeiträge, unter anderem von Francois M. Presley und ein Schlusswort von Prof. Heinz Spielmann.
Aus dem Inhalt
Re-evolution
Zu den Skulpturen von Bernhard Lehmann
Lehmanns Arbeiten begegneten mir zum ersten Mal in einer sie sehr unwirklich haltenden, einer sie durch ihre satten Farben verschlingenden Umgebung, auf einer Rasenfläche, von Bäumen und Sträuchern gerahmt, einem Rahmen, der - wie oftmals bei der bildenden Kunst - das Werk, um das es eigentlich geht, gefangen nimmt, es beengt, ihm einen völlig anderen Ausdruck verleiht, vor einem Haus, vor einer Galerie in Hamburg.
Fast würdevoll gaben sie sich der »Gefangennahme« hin: Der rötlich schimmernde, wuchtige iranische Travertin schien über die Gräser hinwegzuschweben, dies verursacht durch die aus ihm erwachsenden Metalle; die wie aneinandergereihte Regentropfen wirkenden Stahlstangen bewegten sich im Wind, berührten einander, gaben Klänge, unregelmäßig und doch mit einer auf Dauer sehr beruhigenden Regelmäßigkeit, die sich schnell für den Betrachter und Zuhörer von einem künstlich erzeugten zu einem natürlichen Bestandteil der uns in der Natur umgebenden Klangund Bilderwelt entwickelten.
Diese wuchtig wirkenden und doch grazilen, diese unwahren und doch vorhandenen Objekte, diese unnatürlichen und doch dazugehörenden Klänge wirkten auf mich, als ginge es hier lediglich um den Kontrast, als beweise sich einmal wieder der schlecht gewählte Ort, der Tribut, den Kunst an die kommerzielle Wirklichkeit zollen muß, eigentlich sogar ein bißchen entgegen ihrem Ursprung, soweit er in unserer heutigen Welt überhaupt noch erkannt wird, geschweige denn sich behaupten kann.
Ich sah vor mir einen großen weißen Marmorsaal, eine repräsentative Halle in einem großen Bürogebäude, den Asphalt im öffentlichen Raum, dachte mir Bernhard Lehmanns Arbeiten in diese Umgebung, herrschaftlich, großzügig, den Raum nicht ergänzend, ihn beherrschend, ihm überhaupt erst einen Sinn verleihend, die Fortführung natürlicher Formen, die edle Vollendung des hier nun zur Kunst gewordenen Steins, die Vollendung der alltäglichen und von uns nicht mehr beachteten Bewegungen der Grashalme draußen in der Natur.
Ich spürte die Bewunderung, wenn sich Menschen in diesen Hallen flüsternd oder auch schweigend den Skulpturen stellten, erkannte in ihren Gesichtern die Assoziationen, die sie mit »Gate of Winds«, »Blue Grass Music« oder »Weite und Wersten« verbanden, erschwieg mir in Gedanken ihre Sprachlosigkeit, die oftmals mir begegnete, wenn vor Naturwundern stehend Menschen sie nicht fassen können.
All diese Gedanken führten mich zurück zu dem Ort, an dem ich Lehmanns Arbeiten zum ersten Mal sah, in Hamburg, in einer Galerie, im Garten, von Sträuchern und Bäumen umrahmt, auf einem Rasen, der schwere, ja wuchtige Stein, die Erde, aus der der Stahl, aus der die Halme erwachsen, in die die Regentropfen fallen, die leise Melodie, wenn der Wind die Dinge instrumentalisiert, die alles verschlingenden Farben, in denen dennoch auch alles besteht, jedem Leben Raum gegeben wird.
Dienen Lehmanns Arbeiten nicht der Vollendung dessen, was schon so lange währt und aus dem sie selbst erwachsen sind? Sind sie nicht die Überhöhung, weil die Natur nicht reicht, die in großen Sälen ausgestellten Prototypen dessen, was wir uns als Krönung der Schöpfung vorstellen wollen? Dienen sie nicht der Befriedigung unseres Ästhetikempfindens, einfach aussagelos dastehend und schön?
Ich glaube eher, daß sie uns einen Teil unserer eigenen Entwicklungsgeschichte zeigen, daß sie sich vom Ursprung und einer sehr strengen Ordnung, die aus dem Spiel mit der mystischen Zahl Vier entsteht (vier Himmelsrichtungen, vier Erzengel usw.) und mit der Acht, Zwölf und Sechzehn weitergeführt wird, zuerst zu einer harmonischen Unordnung fortentwickeln, den Raum erfassend, mit den Elementen spielend, spielend auch mit dem Wind, dem (Regen-)Wasser, der Sonne und dem Sand (Erde), trotz der Härte des Materials organisch, um später zurückzufinden,um wieder ein Teil dessen zu sein, aus dem sie sind, zurück zur Erde, zur Zeit, zum Ursprung, zur anfangs erwähnten strengen Ordnung.
Ein bißchen spiegeln sie unsere Soziologie wider, wir wandern mit ihnen an vergangene Plätze, leben Erlebtes neu, erkennen in Widersprüchen auch Einheitlichkeit, im Zwang eben dieser Einheitlichkeit auch das zwanglose Sichbewegenkönnen, lernen etwas über den Raum, in den wir sie wünschen, in den wir uns wünschen, uns fortentwickelnd von dem Beständigen, einfach ziellos, anstatt hineingeboren zu bestehen. Hamburg, in 1994, François Maher Presley
Raum aus dem Geist der Musik
Einige subjektive Anmerkungen zur Arbeit von Bernhard G. Lehmann
Manche Objekte Bernhard G. Lehmanns bilden eine Struktur, die an Notenblätter erinnert, sie entsprechen jedoch nicht der Ordnung eines obligaten, unbeschriebenen Notenpapiers. Die Zahl der parallelen Drähte wechselt von wenigen – etwa zwei oder drei – und nimmt bis zu einer auf den ersten Blick nicht fassbaren Menge zu, sie formen sich zu Bögen, zu rhythmisch strukturierten Zeilen, sie schwingen, nur an einem Ende fest gehalten, in den freien Raum und klingen in gleichen oder unterschiedlich langen Enden aus. Sie wecken die Vorstellung, Töne erzeugen, klingen oder summen zu können, sie gleichen einer vom Raum hervorgerufenen Musik. In einigen Zeichnungen des Künstlers aus dem Jahr 2001 finden sich ähnliche Strukturen wieder; sie tragen kennzeichnenderweise den Titel “Musikalische Wanderung“.
Dass Hans Werner Henze, der den Künstler in dessen Rendsburger Atelier besuchte, von dieser Kunst angetan war, erscheint fast als selbstverständlich, wenn auch nicht als zufällig. Der Maler und Bildhauer hatte, bevor der Komponist ihn um eine Arbeit für seinen Garten bat, den ersten Schritt auf die Begegnung hin getan. Nach dem Lesen von Henzes Lebenserinnerungen “Reiselieder mit böhmischen Quinten“ und nach dem Hören einer Sammlung von Henzes Musik, die zu dessen 70. Geburtstag erschien, schenkte er ihm eine Arbeit mit dem Titel “Let’s talk about music“. Die Reaktion darauf erfolgte mit dem Wunsch Henzes, für seinen Garten in der Nähe Roms ein größeres Werk zu bekommen. Die Entstehung dieser Arbeit dokumentiert eine kleine bibliophile Kostbarkeit; sie beschreibt die Entwicklung der Idee, ihr Konzept und ihre Realisierung mit Worten, die gleichfalls die Nähe zur Musik beschreiben. Da ist von Assoziationen an ein Ballett die Rede, von “drei Sätzen“, mit denen die drei unabhängig voneinander bestehenden, jedoch als Einheit komponierten Elemente bezeichnet werden. Optisch teilt sich diese Teilung als Ruhe und Statik, aber auch als Bewegung und Dynamik mit, als technisch-artifizielle Form neben und im Leben der durch den Garten geformten Natur. Die dünnen, dunklen Zweige des daneben stehenden Baumes antworten auf das Freieste der Präzision der leuchtenden Stahlsaiten, ihre schwarze Zeichnung korrespondiert mit den hellen Linien der zum Bogen gefügten Drähte, und der Himmel über der grauen Gartenmauer spiegelt sich in den Metallflächen, mit denen die Drähte gehalten werden.
Musik und bildende Kunst stehen seit langem in einer engen Beziehung zueinander, obwohl sie sich an andere Sinne richten. Gern werden die Theorien Kandinskys, die Experimente des Komponisten und Malers Ciurlionis, auch Goethes Satz von der Architektur als einer Stein gewordenen Musik als Beleg für die Parallelität von Musik und bildender Kunst zitiert. Doch die Quellen für solche Idee reichen ungleich weiter zurück, etwa zur Proportionslehre, in der die Künstler der Renaissance den ästhetischen Maßstab schlechthin sahen. Diese Lehre übertrug die Stufen der Tonleiter auf die harmonischen Proportionen von Räumen, Figuren und Bildgliederung. Der Architekt Leone Battista Alberti sprach, als er, auf Ficinos Kommentar zu Platos “Timaios“ gestützt, seine drei Grund-Proportionen beschrieb, von der “musikalischen“ Proportion als der harmonischsten. Sein Urteil griff jedoch nur auf, was er von Plato, Plato von den Pythagoräern wusste, diese vermutlich von den indischen Brahmanen erfahren hatten. Von ihnen übernahmen auch Buddha und die Verfasser seiner Sutren die Vorstellung von der Weltordnung in der Harmonie der Spären – deren graphische Darstellung, die wir auf den Lotosblättern des großen Buddhas in Nara finden, zeigt dieselben parallelen Linienbögen wie die gebogenen Drähte der Plastik in Hans Werner Henzes Garten. Zu diesen Jahrtausende und Kontinente überbrückenden Gemeinsamkeiten musikalischer und bildnerischer Überlieferungen passt es, dass Bernhard G. Lehmann zum Ehrenmitglied des Künstlerbunds von Aserbeidschan gewählt wurde, einem Land am Rand der Seidenstrasse, an der entlang die Lehren der Brahmanen nach Westen und Osten gelangten. Was uns an Bernhard G. Lehmanns Gebilden aus Stahl so neu und modern erscheint, hat ein tragfähiges Fundament, wenn dies auch weder dem Bildhauer noch dem Komponisten bewusst sein mag. Ist es das bewusst vor Augen oder Ohren Gestellte, das Kunst ihre Bedeutung gibt, oder das als selbstverständlich sich mitteilende Erbe? Hamburg, im Januar 2006. Heinz Spielmann